Weltreise Tagebuch

#86 Miss Sarajevo

Carsten

07. – 09. August 2018

Minuten, Wochen und Jahre – Zeitabschnitte in denen Sarajevo Berühmtheit erlangte. Auf den Spuren der Attentatsbrücke von 1914, den Olympischen Winterspielen von 1984 und der Belagerung von 1992-1995 begegnen wir der Gegenwart der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. Fröhlicher Touristentrubel in der Altstadt und Shoppingcenter, Street Art in der Bobbahn und Nachdenklichkeit zwischen Trümmern und Kindheitserinnerungen.

Wer Sarajevo besucht, kann viel erleben und wer mit dem Auto kommt ungleich mehr 😉 Unsere Anfahrt, von Google Maps geführt, ist spannend und führt durch engste Gassen, Sackgassen und auch Einbahnstraßenrichtungen scheint Google nicht zu interessieren. Hauptsache im Verkehr mitfliessen und nach diversen Routenänderungen stehen wir doch vor unserer Unterkunft. Eine eingezäunte überwachte Villa, die eine coole Hostel-Pension etwas oberhalb der Altstadt beherbergt. Mit Emir als Vermieter hätten wir es nicht besser treffen können und wir verlängern gleich noch einen Tag.

Nach dem Einchecken geht für uns zu Fuss in Richtung Altstadt, dem alten Handwerksviertel, und auf halber Strecke beantworten uns die Wolkentürme ob es regnen wird. Es schüttet aus Kübeln, hagelt, blitzt und donnert. Die Straße steht unter Wasser und wer nicht im Auto sitzt, versucht sich so unterzustellen, dass er nicht vom fahrenden Verkehr geduscht wird. Als der Regen nachläßt, gehen wir weiter und versuchen in einem Falafel Restaurant einen Platz zu bekommen, aber sie winken schon draußen ab, komplett voll, so wie die meisten anderen Restaurants auch. Das Gewitter hat die Gassen geleert und die Restaurants und Cafes gefüllt. Dann eben die lokale Spezialität Krompiruša, mit Kartoffeln und Zwiebeln gefüllter Blätterteig auf die Hand – lecker 🙂

Leider regnet es sich heute richtig ein und wir gehen zurück ins Trockene, unsere Füße haben schon Schwimmhäute 😉

Sarajevo hat diesen Sommer ’18 das Gegenteil von dem Dürrewetter was in Deutschland herrscht. Viel Regen und heute zusätzlich noch Hagel.

Die Straßen verwandeln sich in Bäche

Losgehen lohnt nicht

Am nächsten Morgen starten wir um sechs Uhr bei schönstem Wetter in die Altstadt, und haben die begehrten Gassen fast für uns allein. Vereinzelte Händler bauen ihre Stände auf, während die meisten noch ruhen und wieder andere schon längst die ersten Gäste mit Kaffee und Tee versorgen. Ein paar weitere Touristen begegnen uns wiederkehrend an den Hotspots des verwinkelten Viertels. Langsam kehrt das trubelige Leben des Tages zurück und das Warenangebot erinnert uns zunehmend an einen türkischen Basar.

Morgenstimmung in der Altstadt

Selbst ist der Fahrer und räumt erst mal den Stuhl weg um durch die Straße zu kommen

Morgenroutine

Basarstraße vor der Touristenzeit

Gleiche Basarstraße zur Touristenzeit

So viel Blingbling 😉

Noch mehr glänzende Staubfänger

Auch die Architektur ist auf der östlichen Seite osmanischen Ursprungs und wurde westlich von Österreichern und Ungarn geprägt. Es gibt sogar eine offizielle Trennlinie quer über die Fußgängerzone, die vermutlich für uns Touristen angelegt wurde 😉

Emir erzählte uns gestern, dass er gerne nach Mitternacht mit dem Rad durch die Altstadt fährt, dann könne er das schöne Viertel geniessen. Ja es gibt sie, die schönen ruhigen Momente dieses besonderen Touristenmagnets Sarajevos, so zwischen Mitternacht und sieben Uhr in der Früh 🙂 Absolut lohnenswert!

Handgemachte Riesenkanne

Lampen in allen Farben

Teppiche und Schale in allen Mustern

Klein Istanbul in Sarajevo

Es ist merklich voller geworden und wir weichen auf die nähere Umgebung aus um uns weitere Kirchen, Moscheen, Synagogen, Denkmähler, Brücken und die Stadt als solches anzuschauen. Natürlich gehen wir auch über die Lateiner Brücke auf der 1914 das tödliche Attentat auf Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durchgeführt wurde. Ein kleines Denkmal erinnert an der Brücke an dieses Ereignis und seine Folgen.

Es gibt einfach viel zu sehen und als wir unseren Blick zum Boden richten sehen wir mit rotem Harz ausgefüllte Löcher im Boden. Die Rosen von Sarajevo erinnern an den kriegerischen und tödlichen Alltag der Besatzungszeit. Wir erfahren wiederholt, es sei wichtig zu vergeben, aber nicht zu vergessen. An das Nichtvergessen erinnert auch die ewige Flamme Vječna Vatra am Anfang der Fußgängerzone, die für die Befreiung Bosniens von den Faschisten des 2. Weltkrieg brennt. Wir sehen vom Krieg zerbombte Ruinen, restaurierte Altbauten und moderne Architektur, traditionelles und modernes Leben, vor allem jedoch einen auf den Tourismus eingespielten Alltag. Die meisten Touristen bleiben nur ein bis zwei Nächte und da muß es schnell gehen, für beide Seiten.

Kirche des Hl. Antonius

Das ewige Feuer

Gazi-Husrev-Beg-Moschee – eine der ältesten Moscheen Bosniens (16. Jhd)

Riesen Zwergentür 😉

Nun ist es später Vormittag und endgültig Schluß mit ruhig, alle sind nun unterwegs, die Spätaufsteher genauso wie die Tagesausflügler aus dem Umland, Touristen und Einheimische gleichermaßen. Die Straßen sind voller alter Autos und die Luftverschmutzung ist kaum zu glauben und nur von einigen Städten Asiens zu überbieten.
Für uns wird es Zeit einmal mehr den gefüllten Blätterteig essen zu gehen. Diesmal in einem kleinen Café das etwas abseits der Touristenströme von einem jungen Paar geführt wird. Schon ist es noch leckerer, netter und authentischer 😉

Auf dem Rückweg zur Villa gehen wir wieder am osmanischen Sebilj Brunnen auf dem Baščaršija-Platz vorbei und erleben wie hunderte von Tauben von unterschiedlichsten Menschen gefüttert werden. Schon seit Jahrhunderten lebt diese Tradition und soll dem Fütternden als Gegenleistung Glück in der Zukunft bescheren. Eine weitere Besonderheit des Brunnens ist das Trinkwasser, dass er spendet. Wer von ihm trinkt werde nach Sarajevo zurückkehren, so wird gesagt. Wir werden auf jeden Fall wiederkommen und das schon morgen 😉

Sebilj – der bekannte Holzbrunnen

Die Kaisermoschee

Im Bosnienkrieg zerstört, seit 2016 wiedereröffnet: die Nationalbibliothek – leider ziemlich leerstehend

Verdammter früher Vogel, aber es nutzt ja nix. Der Hitze und den Menschenmassen wollen wir so gut es geht ausweichen und so geht es diesmal mit dem Auto schon vor der Rush Hour in Richtung Olympia Bobbahn aus dem Jahre 1984. Google Maps bietet uns eine recht direkte kurvenreiche Strecke an, die deutlich kürzer ist, als die alternative Route über äußere Stadtteile. Wow, das nenn ich mal steil und eng. Bei Nässe würden sicher die Räder durchdrehen und wir kämen an einigen Stellen nicht weiter rauf, abgesehen davon, dass nicht ganz klar ist, wie weit wir bergab rutschen würden. Hoffentlich kommt uns keiner entgegen.

Kurz bevor wir die nächste Hauptstraße erreichen, kommen wir noch an einer Ruine vorbei und es ist schon ein seltsames Gefühl an einem Ort zu stehen, von dem die Belagerer des eingekesselten Sarajevos auf Zivilisten geschossen haben. Als wir von der Bobbahn zurückkommen, halten wir nochmals hier an und plötzlich stehen zwei Pferde mit geländetauglichen Hufeisen in diesem Gebäude, kommen auf uns zu und entschwinden wieder. Ein wirklich surrealer Moment.

Sarajevo

Von Bergen umringt, im Tal und an den Berghängen errichtet. Aussicht vom Berg Trebević (1629m)

Ungewohnter Anblick

Serbische Streitkräfte beschossen von hier aus die Stadt

Wir fahren weiter in Richtung altes Olympiagelände, folgen Google Maps über alle möglichen und unmöglichen Fahrbahnbeläge und Breiten und kommen zwar nicht zur eingezeichneten Bergbahnstation, aber immerhin an den Hotspot der Bobbahn – auch wenn wir dafür einmal im Kreis fahren durften 😉 Egal, wir sind froh angekommen zu sein und außer uns sind nur noch ein paar Tschechen da, die hier oben gebiwakt haben und nach dem Duft der frischen Farbe zu urteilen auch nicht ganz untätig waren 🙂 Es ist nicht zu erwarten, dass die Bobbahn jemals wieder Instand gesetzt wird, zu sehr hat der Zahn der Zeit an den Materialen gefressen und auch die Flora holt sich Stück für Stück zurück. Nur ein paar wilde Mountainbiker und Skateboarder kümmern sich um einzelne Ausbesserungen der Fahrrinne, die ihnen weiterhin die Befahrung von Teilstücken ermöglicht. Krasse Sache! Als wir am Start der alten Bahn ankommen, sehen wir ein abgebrochenes steiles Teilstück mit dem Graffiti „For the Kids“. Na, wenn das keine Einladung ist?! Cool, Reibungskraxeln auf einem Stück Olympiageschichte!

Auf einer Bobbahn zu laufen ist schon verrückt

Zweifelhaftes Graffiti

„For the kids“

Graffiti Hot Spot

Ohne Anlauf nach oben!

Nach ausgiebigem Rauf und Runter auf der Bobbahn wollen wir wieder ins Tal. Doch vor unseren Augen wird gerade die Straße gesperrt. Nee, kann nicht sein! Ich springe aus dem Wagen und zeige dem Straßensperrer unsere eigentliche Route auf Google Maps und wir dürfen tatsächlich noch hindurch huschen. Das war knapp, vor allem weil auf den nächsten Metern schon echt schweres Gerät im Einsatz ist und die Bauarbeiter sehr ungläubig schauen, als sie uns sehen. Die sind wenig angetan von unserer Sonderbehandlung. Wir schon und danach wollen wir auch kein weiteres Risiko eingehen und so nehmen wir lieber den langen Umweg über die Außenbezirke in Kauf als nochmals die ultra steile einspurige „Straße“ vom Hinweg zu nehmen.

Unser eigentlicher Plan fürs heutige Mittagessen ist das erste rein vegane Bistro in Sarajevo – etwas außerhalb in einer neuen Wohnsiedlung gelegen – zu besuchen. Seit August soll es geöffnet haben und das wollen wir dann auch nicht auslassen. Gesucht, gefunden und leider noch geschlossen. Eröffnungstermin ist heute Nachmittag in sechs Stunden. So lange wollen wir dann doch nicht warten und bekommen als kleine Entschuldigung ein paar Bananen geschenkt, die eigentlichen Köstlichkeiten sind noch nicht vorbereitet. Der kleine Hunger ist gestillt und ab geht es auf unser Zimmer zum kurzen Ausruhen, denn am Nachmittag wollen wir uns noch eine Ausstellung zum Thema Belagerung Sarajevos anschauen.

Gesagt getan und ab durch die Hitze in die klimatisierten Ausstellungsräume. Auf uns warten Fotografien aus der Belagerungszeit und der Funde der Massengräber, veränderte Werbeklassiker und Filmdokumentationen. Besonders erschreckend ist die Tatsache, das Blauhelme vor Ort waren und Europa nichts gegen die Massaker unternommen hat. Statt „United Nations“ ist „United Nothing“ zu lesen. Sollten wir nicht aufmerksamer sein und ernsthafter über die weltweiten Tragödien nachdenken und handeln? Erst gestern wurde ich gefragt ob ich in meinem Alter die Welt noch verbessern will. Wow, ja was denn sonst?! Wie beeindruckend für uns ist es dann mit zu erleben wie mutig und unermüdlich Menschen um den Erhalt von Frieden, Menschlichkeit und Vergebung kämpfen – und das ohne Waffen und ohne Hass, trotz ihrer Geschichte.

Ein Film der besuchten Ausstellung ist mit Musik untermalt, genau genommen mit dem im Jahr 1995 von U2 und Brian Eno feat. Luciano Pavarotti herausgebrachten Song:

„Miss Sarajevo“

Es ist für uns einer der schönsten Anti Kriegs Songs und hat leider nichts von seiner Aktualität (Syrien, Jemen, Afganistan…) verloren.

Besuch der Ausstellung „Gallery 11/07/95“

„Alles was nötig ist um das Böse triumphieren zu lassen, ist das gute Menschen nichts unternehmen.“

War Childhood Museum – Kriegskinder Museum

Geschichten zu den Lieblingsstücken der Kinder

Nicht genug des Gefühlschaos, wir gehen weiter ins „War Childhood Museum“ das 2017 eröffnet hat und Kindheitserinnerungen aus den Kriegsjahren teilt. Schlicht und ruhig werden Einzelstücke ausgestellt und die dazugehörige Geschichte ist lesbar und wird auch per Audiodatei zur Verfügung gestellt. Wieder wird deutlich wie sehr die Zivilbevölkerung gelitten hat und wie Kinder Opfer dieses Belagerungskrieges waren. In dem Zusammenhang ist es sehr interessant, das gerade die damaligen Kinder heute für Versöhnung stehen. Allerdings ist auch das abhängig von der Erziehung, doch dazu mehr im nächsten Bericht über unseren Besuch der Stadt Mostar im Süden Bosnien-Herzegowinas.

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